07.10.2017

Fetzig und leichtfüssig auf dem Parkett

An der Boogie-Woogie-Weltmeisterschaft in Marseille hat das Team „Jumpy and the Shakers“ – mit Christophe Seiler in seinen Reihen – eine sehr gute Figur gemacht und die Erwartungen als Fünftplatzierter sogar übertroffen.

(fs) – „Unser Ziel war das Finale, und das haben wir erreicht“, antwortet Christophe Seiler auf die Frage, ob er gesamthaft zufrieden oder noch mehr dringelegen ist. Im Vergleich zum letzten Jahr gelang eine Verbesserung um einen Rang. Aufgrund der Tatsache, dass von den zwölf Teammitgliedern rund die Hälfte über keine oder kaum Turniererfahrung verfügte, war realistischerweise nicht mehr möglich.

Den WM-Titel gewann Bingo Boogie aus Russland vor Freestyle Boogie aus der Region Genf und Boogie-Magic’s I aus Deutschland. Die Bewertungen und entsprechenden Klassierungen sind für ihn weitaus nachvollziehbarer als in der Vergangenheit, wo die beiden deutschen Vertreter ein Dauerabonnement auf die Spitzenplätze hatten. Es freut ihn besonders, dass sie besser abgeschnitten haben als die zweite Gruppe von den Boogie Magic’s. Allgemein stuft er das Niveau recht hoch ein.

Europa völlig unter sich

Es nahmen acht Formationen aus fünf europäischen Ländern teil. Dazu hält der 55-jährige Koblenzer – bei den Männerturnern schon für manche Nummer an der Abendunterhaltung zuständig – folgendes fest: „Den Tanzstil gibt es nicht nur in Europa, aber die Bezeichnung Boogie-Woogie ist hier gebräuchlich. In den USA spricht man eher von East Coast Swing.“ Der weltweite Dachverband – kurz WRRC genannt – zählt 36 Landesverbände. Darunter befinden sich Nationen wie Australien, USA, Indien, Korea und aus Afrika. Tatsächlich scheint Boogie-Woogie als Turniertanz in dieser Form nur in Europa verbreitet. Weshalb das so ist, entzieht sich seiner Kenntnis.

„Es wird wohl auch so bleiben!“

Er teilt den Eindruck, dass es sich selbst bei der absoluten Spitzenklasse um eine Randsportart handelt. Dies äussert sich in der Anzahl der Aktiven und den finanziellen Mitteln, die dafür investiert werden. Der Schweizer Verband hat im Jahr 2012 ein Konzept ins Leben gerufen. Damit wurde die Vorgabe definiert, eine erfolgsorientierte Förderung aufzubauen. Wenn die gängigen Kriterien angelegt werden – Zahl der Aktiven, ökonomische Verwertbarkeit und Wahrnehmung durch die Massenmedien – ist Boogie-Woogie wie jede andere Tanzdisziplin weiterhin eine Randsportart.

Aus der Familie der Swing-Tänze

Der Boogie-Woogie ist eine Oldschool-Variante des klassischen Rock’n’Rolls, und er wird flacher getanzt als der sportliche Sprungschritt. Er zeichnet sich durch die Spritzigkeit und Vielseitigkeit in der Fussarbeit aus, während der Oberkörper des Tänzers meist lässig und ruhig aussieht. In der ursprünglichen Form werden weniger akrobatische Figuren (wie Saltis, Rotations- und Hebefiguren) getanzt. Es kommen die prägenden Grundelemente aus dem Swing und Blues in der passenden Choreografie zur Geltung. Ein weiterer Unterschied liegt in der Akzentuierung der Schritttechnik, wo der Fuss unbelastet aufgesetzt wird. Dazu ergänzt der Experte: „Er ist einer von über ein Dutzend Swing-Tanzarten. Die Bezeichnung wirkt etwas missverständlich. Dabei wird nicht nur auf Boogie-Woogie-Musik getanzt, sondern vorwiegend auf Rock’n’Roll, Rockabilly, Rock, Jump Blues und Swing.“

Schon lange fasziniert davon

Christophe Seiler liebt die Musik und Dynamik des Tanzes. Angefangen hat es mit Tanzkursen, die er als junger Student besuchte. So rutschte er in den (Akrobatik-) Rock’n’Roll-Tanz rein, und 1985 trat er dem Rock’n’Roll-Verein „Frirock“ in Fribourg bei. Damals war die Disziplin Boogie-Woogie praktisch unbekannt. Erst tief in den 90er-Jahren kam er damit in Kontakt. Seit 1996 ist er beim RRC Lollipop Hausen bei Brugg Kursleiter und Trainer, was als Pendant zum technischen Leiter und Oberturner eines Turnvereins entspricht. Ab dem Jahr 2000 bekleidet er auch noch das Amt des Vizepräsidenten.

Wettkampfpraxis gesammelt

Bis anfangs Dreissig bestritt er einige nationale Rock’n’Roll-Turniere, womit er vermeintlich abgeschlossen hat. Dass er über zwanzig Jahre später zur Mitwirkung in einer Boogie-Woogie-Formation angefragt wird und somit wieder ins Turnierwesen hineinrutscht, hätte er sich nicht träumen lassen. Nebst einigen kleineren Veranstaltungen waren seither die Swingtanz-Europameisterschaft 2015 in London 2015 sowie die Boogie-Woogie-Formationsweltmeisterschaft 2016 in Schaffhausen und jetzt in Marseille die bedeutendsten Events.

Die englische Bezeichnung „Formation Main“ ist auch für ihn unklar. Es gibt nur eine Kategorie, und nicht zusätzlich eine Junioren- und Senioren-Kategorie wie bei den Einzelpaaren. Solche Anlässe auf höchster Ebene werden seit mindestens 25 Jahren ausgetragen. Der Turnus schwankt von ein- bis dreijährig, in diesem Jahrzehnt 2010, 2013, 2015, 2016, 2017. Die nächsten Termine für 2018 und 2019 sind bereits fixiert.

Auf Anzahl und Jugend gesetzt

Die Formationsgrösse von vier Paaren wurde auf die maximal erlaubte Zahl von sechs Paaren aufgestockt, weil dies die Bewertung positiv beeinflusst. Von den letztjährigen Mitwirkenden waren aus verschiedenen Gründen nur noch vier dabei. Deshalb mussten acht Personen neu angeworben werden. Dabei wurden sie von Interessierten keineswegs überrannt. Es war schwierig, Paare zu finden, die sowohl das tänzerische Knowhow als auch die Motivation für den erforderlichen Trainingsaufwand mitbringen. Die jüngste Tänzerin war 18-jährig, sodass das Durchschnittsalter bei anfangs bis Mitte Dreissig lag.

In den vergangenen drei Jahren war Christophe Seiler stets eine Generation älter als die übrigen Teammitglieder. Anfänglich hatte er einige Bedenken, die sich aber als unbegründet erwiesen. Er konnte dank der Erfahrung über seine Funktion als Tänzer hinaus zu einer gut funktionierenden Einheit beitragen. Diesmal erhielt er mit Susanne und Roland Hasenfratz – ihres Zeichens amtierende Schweizermeister in der Senioren-Kategorie – entsprechende Altersgenossen.

Als Mitwirkender in einer offenen Altersklasse ist es ihm ein Anliegen, dass Wertungsrichter und Zuschauer nicht hundert Meter gegen den Wind merken, dass die Tanzpartnerin sich mit jemandem bewegt, der ihr Vater sein könnte. Entsprechend lieber ist ihm das Kompliment „Du tanzt gut“ als „Du tanzt gut…für dein Alter“.

Vom Hobby- zum Leistungssport

„Seit dem Spätfrühling hatten wir rund 60 Formationstrainings, sowohl werktags als auch an Wochenenden“, fasst er die intensive Vorbereitungsphase zusammen. „Dazu kamen einige Probeauftritte und individuell unterschiedliche Einzelpaar-Trainings. Wir steigerten den Umfang laufend, bis zum Maximum von drei- bis viermal wöchentlich. Die Trainingsorte lagen meistens in der Stadt Zürich. Ebenso gehörten Video-Analysen dazu.“

Fünf Mitwirkende kommen aus dem Kanton Zürich. Sechs Personen sind im Aargau zu Hause (Kelleramt, Lenzburg, Zurzibiet). Ein Paar wohnt in Gunzgen (Solothurn) und ein weiteres in Einsiedeln (Schwyz). Das grosse Einzugsgebiet erforderte von allen Beteiligten viel Flexibilität in der Trainingsorganisation.

Die Musikauswahl und Choreografie stammt von der Cheftrainerin Alevtina Kapusta. Sie führt eine Tanzschule und ist auch selbst eine hervorragende Tänzerin. Weil sie in Montenegro lebt konnte sie nur bei einem Teil der Trainings dabei sein. Dies machte die Aufgabe für die Gruppe nicht einfacher. Bei der Musik handelte es sich mehrheitlich um ein Elvis Presley-Potpourri. Es werden massgeschneiderte Kostüme getragen, während die Schuhe ab Stange erhältlich sind.

Mit Herzblut und Idealismus

Etwa die Hälfte der Formation reiste gemeinschaftlich per Zug in die französische Hafenmetropole an der Mittelmeerbucht. Wie bei Randsportarten üblich legt jeder für sein Hobby drauf. Der Stammverein – „Crazy Shakers“ aus Zürich – verfügt zwar über ein Budget, das aber nur die Lizenzgebühren und einen Kostenanteil für die Trainingslokalitäten abdeckt. Den Löwenanteil tragen die Teilnehmenden selber. Das umfasst die Kosten für die Trainerin als Hauptposten sowie Kostüme, Reise und Unterbringung. Abschliessend rechnet er mit einem niedrigen vierstelligen Betrag.

Imposante Mehrzweck-Arena

Der „Palais des Sports“ verfügt über eine Kapazität von 7‘000 Zuschauerplätzen. Für die Boogie-Woogie-WM, welche zusammen mit derjenigen im 10-Tanz stattfand, war die Lokalität ganz einfach zu riesig. Es herrschte eine gute Stimmung, aber wesentlich mehr als 1‘500 Besucher waren nicht anwesend. Die Tanzfläche wies das Mindestmass von 12 mal 12 Meter auf. Die jeweilige Auftrittsdauer betrug zwischen 2:45 und 3:00 Minuten. Das siebenköpfige Kampfgericht bewertete die Darbietungen nach den Kriterien Technik, Figuren, Musikinterpretation und tänzerische Performance.

Parat gewesen am Tag X

Am besagten Wettkampftag – Samstag, 7. Oktober 2017 – mussten vier Durchgänge absolviert werden, zuerst die Haupt- bzw. Stellprobe ohne Bewertung ab 11:30 Uhr, die Qualifikationsrunde ab 14:00 Uhr, die Hoffnungsrunde ab 17:00 Uhr und dann die Finalrunde ab 22:30 Uhr. Um sich direkt zu qualifizieren, galt es den vierten Rang zu erreichen. Weil dieser als Sechster nicht glückte, ging es in die Hoffnungsrunde. Dort behielten sie klar die Oberhand, womit der angestrebte Platz für das abendliche Finale bestätigt wurde. Die Herausforderung lag insgesamt weniger an der Kondition als vielmehr darin, die Spannkraft während des ganzen Tages beizubehalten und immer wieder aufzubauen.

Bilanz: Mehr als zufrieden…!

Christophe Seiler verlängerte den Aufenthalt in Marseille um drei Tage. So konnte er mit seiner Frau noch einiges von der Hafenstadt und Umgebung sehen. Sein Schlussfazit fällt erfreulich und zukunftsweisend aus: „Der persönliche Aufwand war tatsächlich beträchtlich, und andere Hobbys und das Sozialleben wurden mitunter schon beeinträchtigt. Aber es kommt auch viel zurück. Da ich darüber hinaus Potenzial für ein künftig noch besseres Abschneiden sehe, halte ich ein Engagement im kommenden Jahr für möglich.“

Video von der Finalrunde: https://www.youtube.com/watch?v=HJdVZD00Yxg

Text zum Foto: Nach der siegreichen Hoffnungsrunde hat sich die Formation – links aussen mit Christophe Seiler – in Pose gestellt.